Stahltag 2022: Digitalisierung, Automatisierung, Dekarbonisierung
Wie sexy ist die Stahlindustrie? Diese Frage wurde im Verlauf des hybriden Welser Profile Stahltages 2022 mehr als einmal aufgeworfen und mit einem schmunzelnden, aber auch mit einem ernst gemeinten Zwinkern thematisiert. Denn große “Tanker” wie voestalpine, thyssenkrupp und Welser Profile befahren die stählernen Ozeane seit vielen Jahren mit beeindruckenden Schwerlasten. Gleichzeitig pfeifen schnelle und dynamische “Schnellboote” wie Resourex immer öfter vorbei und machen dabei eine verdammt gute Figur.
Unter der charmanten Moderation von Jörn Miklas, SCM Manager bei Welser Profile, verging der Stahltag am 06. Oktober 2022 ähnlich schnell wie die Fahrt in einem Speedboat. Die einen saßen dabei bequem im neuen Welser Begegnungszentrum in Gresten und durften sich in den Pausen an diversen Köstlichkeiten laben und networken. Speaker und Gäste, die nicht direkt vor Ort sein konnte, schalteten sich entspannt von zuhause aus dazu, um ihre Keynote zu präsentieren, den Diskussionen und Vorträgen zu folgen oder Fragen im Chat einzusenden. Ein hybrides Event mit großem Erfolg und spannenden Diskussionen rund um die Zukunft der Stahlindustrie: digitalisierbar, automatisierbar, immer grüner und schon auch ein bisschen sexy.
Erfolgsgeschichte Resourex: ein Speedboat mit Potenzial
Der Vormittag am Welser Profile Stahltag 2022 rankte rund um ein Tool, das eine kleine Achterbahnfahrt hinter sich hat, bevor es mittlerweile mit hohem Erfolgspotenzial am Markt positioniert werden konnte. Tim Sauber, Head of Global Sales & Marketing bei Welser Profile, entführte das gespannte Publikum in die Erfolgsgeschichte von Resourex, eine digitale Lösung für den Stahlhandel. Auf der Live-Plattform legen Käufer und Verkäufer ihre Angebote und Bedarfe an, um eine schnellere und effizientere Abwicklung zu ermöglichen.
Highlights von Resourex:
- Unabhängiges Handelsinstrument für Stahl, in Echtzeit und 24/7 verfügbar
- Reine B2B-Plattform für Anfragen und Angebote
- Konzipiert als "Walled Garden" mit verifizierter & geprüfter Benutzerbasis
- Verwendung von bis zu 50 Parametern zum Klassifizieren, Suchen, Bieten, Kaufen und Verkaufen von Material
- Maschinell interpretierbar
Wie so viele neue Geschäftsideen, düste auch das gleichnamige Startup Resourex nicht sofort steil bergauf, sondern hielt das eine oder andere Learning und “Fuck-Up” für die begeisterten Innovatoren und Gründer bereit. Welser Profile unterstützte Günther Wutzl und Markus Janovsky als Sparring Partner und Early Adopter bei der Verwirklichung ihres zukunftsträchtigen Vorhabens für die Branche: den Stahlhandel zu digitalisieren und zu automatisieren.
Digitale & automatisierte Stahlindustrie: wie die Tanker agiler werden
Mittlerweile sind auch andere Pioniere aus der Stahlindustrie auf das “Schnellboot” Resourex aufgesprungen, darunter voestalpine und Wuppermann, die eher in die Kategorie “Tanker” fallen dürften. Angetrieben durch Experimentierfreudigkeit, Innovationsgeist und einen spürbaren Need in der Stahlbranche nach neuen Lösungen, dürften den Stahlriesen die Worte von Markus Janovsky im Ohr bleiben: "We develop what customers need not what they could need.”
Immer wieder kamen die Teilnehmer des Welser Profile Stahltags 2022 auf die Diskrepanz zwischen großen Traditionsunternehmern und agilen Startups in einer sich schnell wandelnden Zeit zu sprechen, wo nicht selten analoge und digitale Konzepte aufeinandertreffen, während bewährte Geschäfts- und Investitionsmodelle gerne einmal mit neueren Business Modellen kollidieren. In einer Sache waren sich die Gesprächsteilnehmer aber einig: “Make sure that people are ready.” Und zwar weniger in einer abwartenden als vielmehr in einer vorbereitenden Rolle. Denn innovative Ideen können noch so brillant und zeitgemäß sein - wenn Kunden und Partner nicht abgeholt und begleitet werden, erleidet auch das verführerische Speedboat schneller Schiffbruch als allen lieb ist.
In der Diskussionsrunde mit Start-Up Investor Michael Altrichter und Vertretern von voestalpine, Resourex und Welser Profile wurden etwa Ansätze aus der agilen Lean Methodik angerissen, wonach heutige Unternehmenskonzepte mit Trial & Error mit relativ geringem Aufwand getestet werden können, ohne von Anfang an ein fixes Gesamtkonzept ausarbeiten zu müssen. Auf diese Weise lassen sich Innovationen umsetzen, egal wie groß und schwerfällig das Unternehmen mittlerweile geworden ist. Die Kooperation und das Investment in kleinere Unternehmen schaffen zudem Vorteile für beide Seiten, um von- und miteinander zu profitieren.
Herausforderungen der sich digitalisierenden Stahlindustrie
Online zugeschaltet wurde Tim Milde, Head of Business Development bei Klöckner, um über die Digialisierungstrends und -herausforderungen zu sprechen:
- Stahleinkaufsprozesse sind komplex und nicht standardisiert, was unterschiedliche digitale Lösungen erforderlich macht.
- Hohe Kostenflexibilität kleinerer Distributoren führt zu mangelnder Marktkonsolidierung und erschwert die Integration aller Verkaufs- und Beschaffungsprozesse.
- Nicht alle Akteure in der Stahlindustrie haben die Ressourcen und Kompetenzen, um in Digitalisierungsvorhaben zu investieren.
- Materialdaten und -beschreibungen sind nicht harmonisiert.
- Hunderte von unterschiedlichen ERP-Systemen, die oft individualisiert und angepasst werden.
- Zunehmende Vielfalt an Kundenbedürfnissen hinsichtlich Losgrößen, lokaler Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und Produkt- und Marktkenntnis für den richtigen digitalen Kanal
Grüner geht immer: Erneuerbare Energie & Dekarbonisierung
Kurz vor der wohlverdienten Mittagspause gab es einen Schwenk zur grünen Realität und einen Einblick in die Entwicklungen der Stahlindustrie. Was allen Anwesenden und Remote-Zuhörern längst bewusst ist und wohl längst nicht oft genug wiederholt werden kann: “It’s getting warmer. We have a dramatic situation because the CO2 atmosphere keeps increasing.” Viele gute Ideen im Sinne verschiedener CO2-Minderungsprogramme sind vorhanden und doch bleibt vieles zu tun, damit diese Dinge nicht nur ungespielte Zukunftsmusik bleiben. Experten stellen bereits heute Diagnosen an, die ein baldiges Handeln forcieren:
- Die Nachfrage nach Rohstahl wird bis 2050 um 30 % steigen.
- Ein Großteil dieses Wachstums wird auf die Schwellenländer zukommen, während die Nachfrage in China, Europa, Japan und Südkorea zurückgeht.
- Der Anteil des Schrotts an der gesamten Stahlverarbeitung wird steigen.
- Der steigende Anteil von Post-Consumer-Schrott lässt kein 100%iges Recycling für hochwertige Stahlsorten zu.
- Prozesstechnologien für erzbasierte Metalle werden eine wichtige Rolle bei der künftigen CO2-neutralen Stahlerzeugung spielen.
Wie passen erneuerbare Energien und dekarbonisierte Stahlerzeugung in Zukunft also zusammen? Am Beispiel von Österreich zeigt Johannes Rieger, Bereichsleiter Raw Materials & Recycling bei K1-Met, auf, wie 100% erneuerbare Energie bis 2030 und die vollständige Klimaneutralität bis 2040 erzielt werden können. Alleine bis 2030 müssen dafür 27 TWh erneuerbare Energie erzeugt werden aus Wasser (5 TWh), Wind (10 TWh), Photovoltaik (11 TWh) und Biomasse (1 TWh). Der damit verbundene Infrastrukturausbau lässt einen herausfordernden und langen Weg für diese Zielerreichung erahnen.
Im Bereich der zukünftigen Stahlerzeugung veranschaulichte der Experte anhand des European flagship project H2Future zudem, dass Wasserstoff (H2) die Lösung für die CO2-Reduktionsziele der Stahlindustrie darstellen wird. Denn am voestalpine-Standort in Linz wird seit 2007 die größte Pilotanlage zur CO2-freien Wasserstoffherstellung betrieben und Forschung vorangetrieben.
Wasserstoff für die Stahlerzeugung der Zukunft
Auch Thyssenkrupp Steel Europe ist bereits auf dem Vormarsch in Richtung einer CO2-neutralen Zukunft, wie Frank Ahrenhold in seinem Vortrag zur geplanten Transformation des internationalen Stahlriesen aufzeigen konnte. Das anvisierte Ziel: -20 Millionen Tonnen CO2-Emissionen bis 2045. Wasserstoff stellt dabei das Kernelement und die Schlüsseltechnologie dar, um die Stahlindustrie nachhaltig und zukunftsfähig zu machen. Bereits heute kann das Unternehmen mit bluemint® pure und bluemint® recycled erste nachweisbare Erfolge verzeichnen, denn der am Standort Duisberg hergestellte Stahl ist eines der momentan grünsten Produkte am Markt. Bilanzierte CO2-Einsparungen führen zu einer geringeren Carbon Intensität von bis 64-70% und das auf derselben Produktionslinie wie zuvor. Weder an der Qualität noch an der Produktionsmenge zukünftig benötigter Stähle ändert sich also etwas, während der CO2-Footprint von Thyssenkrupp spürbar verbessert wird.
Mit Schrottverwertung und Recycling in Richtung CO2-Neutralität
“Die Party hat gerade erst begonnen für Marktimplikationen zur CO2-Reduktion.” Diese Worte von René Gissinger dürften den Zuhörern vor Ort und online noch eine ganze Weile in den Köpfen nachgeklungen haben. Besonders die Wiederwendung von Schrott bringt laut des geschäftsführenden Gesellschafters von Pipe vielversprechende Vorteile mit sich, die leicht umsetzbar sind:
- Die CO2-Emissionen bei der Stahlerzeugung reduzieren sich proportional zur Menge des verwendeten Schrotts.
- Die Infrastruktur der Schrottsammlung, -verarbeitung und -versorgung ist einfach und seit langem etabliert.
- Die Investitionen in CO2-Reduzierung sind deutlich geringer als bei allen alternativen Maßnahmen.
- Schrottbasierter Stahl hat deutlich niedrigere Herstellungskosten als andere Verfahren und ist wettbewerbsfähig zu den heutigen Stahlpreisen.
- Die Umsetzungszeit bis zur CO2-Neutralität unter Verwendung erneuerbarer Energien ist kurz.
Schrott könne eine entscheidende Rolle bei der Transformation von einer ölig-dreckigen hin zu einer nachhaltigen und grünen Stahlindustrie spielen: “Wir haben bei der Sicherung unserer Primärrohstoffe in Europa einen schlechten Job gemacht, jetzt gilt es unsere Sekundärrohstoffe zu sichern.”
Nachhaltige Entwicklungen in eine dekarbonisierte Zukunft
Die Party hat erst begonnen und doch sind bereits heute viele Maßnahmen auf der ganzen Welt im Gange, um die Stahlindustrie grüner zu machen. Nicht zuletzt deswegen, weil sie mit fast 30% noch zu den größten CO2-Verschmutzern zählt. Auf Landesebene ist die USA den europäischen Staaten weit voraus und Chinas Aktivitäten in Sachen CO2-Footprint wohl am besorgniserregendsten. Gleich mehrere Keynote Speaker des Welser Profile Stahltags 2022 zeigten die sichtbare Diskrepanz zwischen den Bemühungen und Lösungsansätzen verschiedener Big Player auf. Vor allem Joost Grubben von 3VC Consulting ging sehr vertieft auf die Unterschiede zwischen US-amerikanischem und europäischem Stahlmarkt ein und präsentierte folgende Conclusio:
- Der US-Stahlmarkt ist aufgrund seiner Struktur volatiler als der europäische.
- Die US-Wirtschaft hat sich von Covid gut erholt und ist dank verschiedener Konjunkturprogramme auf weiteres Wachstum eingestellt.
- Die US-Stahlindustrie ist weitgehend unabhängig von den weltweiten Rohstoffen, einschließlich Erdöl und Erdgas.
- Sie wird wahrscheinlich von der globalen Dekarbonisierung profitieren, ohne den hohen Preis der EU-Stahlindustrie zahlen zu müssen.
Ein Beispiel für starke Nachhaltigkeitsziele präsentierte Mark Rijkaart, Marketing Manager & Sustainability Lead bei Tata Steel aus den Niederlanden. Der Stahlproduzent visiert die vollständige CO2-Neutralität bis zum Jahr 2045 an durch die Herstellung und Auslieferung von wasserstoffbasiertem Stahl aus ihrem modernisierten Werk IJmuiden. Schritt für Schritt sollen Koksöfen, Sinteranlagen und Hochöfen durch DRI-Anlagen und Elektroöfen ersetzt sowie weitere Maßnahmen in eine grüne Zukunft gesetzt werden, z.B. Anschluss an das lokale Netzwerk für grüne Wasserstoffinfrastruktur und nachhaltigem Strom aus Offshore-Windfeldern.
Wie herausfordernd und weit gefasst nachhaltige Entwicklungen in einem so komplexen Sektor wie der Stahlindustrie sind, zeigte zusammenfassend Stephan Flapper von H2 Green Steel auf. Die Vision des schwedischen Unternehmens spricht dabei natürlich Bände: “We decarbonize hard-to-abate industries and we start with steel.” Der erfahrene Experte, der sich selbst als “a steel person” bezeichnet, erinnert das zustimmende Publikum daran, dass heute zwar bereits alle über grünen Stahl und CO2-Neutralität sprechen, der Weg bis dahin aber noch lange ist. Zuerst gelte es die Logik in der Stahlindustrie selbst zu verändern und zwar mithilfe von
- Elektrifizierung der Wertschöpfungskette
- Energiegeografie, d.h. Umstellung von Kohle auf erneuerbare Energien
- Entwicklung der Prozesstechnik
- Digitalisierung und Automatisierung
Fazit: Gemeinsam die Zukunft gestalten
Nach einer zweiten abschließenden Podiumsdiskussion über den Stahl der nächsten Generation mit Herbert Eibensteiner von voestalpine, Andreas Preuss von Future Energy Consulting, Peter Rupp von Hilti und Andreas Welser von Welser Profile ging ein inspirierender Tag voller Gedankenanstöße, Wissenstransfer, Einblicke und Zukunftsprognosen zu Ende. Was folgte, waren angeregte Gespräche über das Gehörte, zahlreiche interessierte Rückfragen und der Austausch von Kontakten. Denn eines dürfte den Teilnehmern des Welser Profile Stahltages 2022 deutlich bewusst geworden sein: gemeinsam lassen sich grüne Zukunftsziele besser und schneller erreichen.
Weiterlesen
Ähnliche Artikel