Steel’s Future 2024: Die europäische Stahlindustrie am Wendepunkt

    6 Minuten
    Okt 8, 2024

    Hat die europäische Stahlbranche eine Zukunft? Diese schicksalsschwere Frage war am Dienstag, den 10. September, im niederösterreichischen Gresten allgegenwärtig. Denn einen Tag lang wurde die kleine Marktgemeinde zum unbestreitbaren Mittelpunkt der Stahlindustrie. Wichtige Branchenvertreterinnen und Branchenvertreter sowie führende Expertinnen und Experten folgten der Einladung von CEO Thomas Welser, um sich beim Steel’s Future-Event - im deutschsprachigen Raum auch als “Stahltag” bekannt - von Welser Profile ausgiebig über aktuelle Entwicklungen, Herausforderungen und Zukunftsvisionen auszutauschen. Insbesondere aber sollte es an diesem Tag - wie der Gastgeber in seinem motivierenden Eröffnungsstatement betonte - um die Förderung des Zusammenhalts innerhalb der Branche gehen.

    In diesem Sinne führten Jörn Miklas, Vice President Steel Management bei Welser Profile, und Daniel Killinger, Director Business Strategic Accounts, gut vorbereitet durch ein hochkarätig besetztes Vortragsprogramm und spannende Diskussionsrunden. Wie kann es der Stahlindustrie also gelingen, ihre Umweltbelastungen zu reduzieren und gleichzeitig ihre Wettbewerbsfähigkeit zu bewahren? In dieser Rückschau finden Sie dazu spannende Einblicke und neue Perspektiven. 

    Die Transformation der europäischen Stahlindustrie

    Kann unsere Branche konkurrenzfähig bleiben? Blastr CEO Mark Bula hat dazu eine klare Meinung: Wenn die europäische Stahlindustrie weiter im globalen Wettbewerb bestehen soll, dann muss sie dringend transformiert werden. Ein besonderes Problem sieht er dabei in der Abhängigkeit von Eisenerz-Importen aus den BRICS-Staaten und der Abhängigkeit heimischer Industrien. Ohne massive Investitionen würde der Standort Europa über kurz oder lang keine relevante Rolle mehr spielen, so der Experte.

    Entscheidend für Bula ist auch die - derzeit mangelhafte - finanzielle Unterstützung von Großprojekten zur Transformation der Stahlerzeugung. Hier wäre die Ablöse der CO2-intensiven Hochofenroute durch nachhaltigere Verfahren im Elektrostahlofen dringend notwendig. Ein Weg, auf dem uns die USA aktuell weit voraus sind. Denn hier stammen bereits 85 Prozent des Stahls aus dem Elektrostahlofen. 

    Diese Einschätzung teilt auch Mark Vance von Steel Technologies. Der Experte aus den USA bot seinem Publikum einen anschaulichen Überblick, warum die grüne Stahlproduktion in Amerika durch den Fokus auf Elektrostahlöfen und Stahlschrott schon wesentlich weiter ist als in Europa. Aber auch jenseits des Atlantiks sieht Vance für die Stahlbranche noch viele Herausforderungen auf ihrem Weg zur Dekarbonisierung. Insbesondere, da mit jedem weiteren Recycling-Zyklus die Qualität des Stahls abnimmt und dieser irgendwann nicht mehr für jede Anforderung verwendet werden kann.

     

    Mit Steelcoin gegen das Preisrisiko: Stahlhandel in der Blockchain 

    Gleich hinter Öl weist Stahl das weltweit höchste Handelsvolumen auf. Und dennoch gab es bis heute keine Möglichkeit, direkt in die Wertentwicklung von Stahl zu investieren. Mit Steelcoin soll sich das nun ändern, wie Frankstahl CEO und Steelcoin-Erfinder Marcel Javor im ersten Beitrag des Tages seine Vision erläutert:

    Steelcoin…

    • bietet regulierte Sicherheit nach europäischem Recht;
    • ist mit der Preisentwicklung spezifischer Stahlprodukte verknüpft;
    • wird in 30 europäischen Ländern (500 Millionen potenzielle Investorinnen und Investoren) ausgegeben;
    • basiert auf der Ethereum-Blockchain;
    • macht Stahl für jedermann als Investition zugänglich;
    • wird auf Crypto-Plattformen wie BitPanda, aber auch als ETP-Wertpapier bei Banken oder Online-Brokern gehandelt.


    Und besonders interessant für Stahlhändlerinnen und Stahlhändler: Steelcoin könnte auch als Hedging-Instrument überzeugen. Denn eine Kalkulation langfristiger Projekte wäre damit ohne Preisrisiko möglich, wie Javor betont. 

     

    Nachhaltigkeit durch Langlebigkeit und Kreislaufmodelle

    Einen alternativen Ansatz für mehr Nachhaltigkeit der Stahlbranche präsentierten Carl Swoboda und Herbert Sikovc am Beispiel der Wuppermann Gruppe. Die Strategie ihres Unternehmens: Langlebige Produkte durch Korrosionsschutz mittels spezieller Zink-Magnesium-Legierung. Dies spart nicht nur Ressourcen, sondern verlängert auch die Haltbarkeit der damit behandelten Produkte. 

    Einen ähnlichen Weg hat auch ZINQ eingeschlagen, wie ZINQ Geschäftsführer Lars Baumgürtel in seinem Beitrag erläutert. Der führende Entwickler von Oberflächentechnologie ist davon überzeugt, dass Kreislaufwirtschaft der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit und zum Schutz knapper Ressourcen ist. Dafür arbeitet das Unternehmen mit neuen Technologien und Beschichtungen, die mit 80 Prozent weniger Zink auskommen und Stahl über 100 Jahre haltbar machen können. 

     

    Transparente Nachhaltigkeit mit Environmental Product Declarations (EPD)

    Therese Daxner, Gründerin und Geschäftsführerin von Daxner & Merl, unterstützt Unternehmen dabei, die Auswirkungen ihrer Produkte auf die Umwelt zu messen und diese mit Hilfe von Environmental Product Declarations (EPD) nachzuweisen. Auf Basis einer unabhängig erstellten Ökobilanz liefert dieses Instrument fundierte Entscheidungsgrundlagen für Unternehmen sowie objektive Informationen für Kunden und Partner, wie die Expertin in ihrem Vortrag hervorhob. 

    Darunter auch zwei für die Stahlbranche wesentliche Aspekte:

    • Die Ermittlung der Umweltauswirkungen eines Produkts erfordert den Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette - von der Rohstoffgewinnung über Herstellung, Transport und Nutzung bis hin zur Wiederverwertung. 

    • Es ist wichtig, nicht allein den CO2-Fußabdruck zu betrachten, sondern auch andere Umweltbelastungen, um eine sogenannte „Carbon Tunnel Vision“ zu vermeiden.

     

    CO2-reduzierte Stahlproduktion in der Praxis

    Dass eine CO2-reduzierte Stahlproduktion längst nicht nur graue Theorie ist, haben am Stahltag gleich mehrere Redner unter Beweis gestellt. Eike Brünger, Geschäftsführer des Ressorts Vertrieb und Logistik der Salzgitter Flachstahl GmbH, konnte in seinem Vortrag aufzeigen, wie der Konzern mit seiner SALCOS-Initiative (Salzgitter Low CO2 Steelmaking) eine umfassende Transformation vollzieht und bis 2033 den CO2-Ausstoß um über 95 Prozent reduzieren will. Dies soll unter anderem durch den Einsatz von Wasserstoff als Reduktionsmittel in Hochöfen erreicht werden. 

    Für eine erfolgreiche Transformation werden jedoch auch diese Faktoren eine wesentliche Rolle spielen:

    • die Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff;
    • die politische Unterstützung in Form von Emissionszertifikaten und Investitionsförderungen;
    • die Bereitschaft der Konsumenten, höhere Preise für grünen Stahl zu zahlen.

     

    Im Anschluss daran präsentierte Lukas Preuler von Primetals Technologies innovative Technologien zur Reduktion der CO2-Emissionen bei der Herstellung von warmgewalztem Stahl. Besondere Beachtung fand dabei die neue ESP-Linie (Endless Strip Production) des Unternehmens, die Gieß- und Walzprozess miteinander kombiniert. Wie bereits sein Vorredner wies aber auch Preuler darauf hin, dass der Übergang zu einer sauberen Produktion kostspielig ist und letztendlich von den Konsumenten akzeptiert werden muss. 

    Grüner Stahl ist aber nicht nur Thema der großen Stahlkonzerne. Die italienische Arvedi Group zeigt mit ihrer ARVZERO-Technologie, dass auch kleinere Hersteller große Schritte machen. Wie Alessandro Geroldi ausführte, handelt es sich bei den Produkten seines Unternehmens um einen zirkulären Stahl, der aus recyceltem Schrott stammt und “zero waste” verspricht. Dabei werden mehr als 90 Prozent der im Produktionsprozess entstehenden Abfälle wiederverwertet und klimaschädliche Gase nach Scope 1 und Scope 2 drastisch reduziert. Kernproblem aber auch hier: Erhebliche Widerstände aller Akteure in der Lieferkette (Scope 3) und keine Bereitschaft, höhere Preise für nachhaltige Produkte zu bezahlen.

     

    CO2-Kompensation: Sinnvoller Schritt oder Tropfen auf den heißen Stein?

    Jodok Batlogg von Tree.ly sprach über die prekäre Situation der europäischen Wälder durch Extremwetterereignisse wie Sturmböen, längere Trockenperioden oder hohe Niederschlagsmengen sowie die dringende Notwendigkeit von CO2-Kompensationen durch Aufforstungsprojekte. Allerdings sind Kompensationsmaßnahmen alleine keine Lösung für den Klimawandel. Der Experte plädierte daher für eine viel stärkere Fokussierung auf grüne Energie, um die globalen Klimaziele zu erreichen. 

    Was Unternehmen dafür tun können: 

    • Transparente Bilanzierung ihrer Treibhausgasemissionen
    • Reduzierung der Treibhausgasemissionen gemäß den EU-Klimazielen
    • Einpreisung von CO2-Emissionen in ihre Produkte
    • Öffentliches Engagement für mehr Klimaschutz

     

    Chancen und Herausforderungen mit Künstlicher Intelligenz

    Künstliche Intelligenz wird die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, maßgeblich verändern. Welche Auswirkungen dieser Megatrend auf die Stahlindustrie hat, war am diesjährigen Stahltag ein allgegenwärtiges Thema. Im Rahmen einer hochkarätig besetzten Paneldiskussion beleuchteten 

    • Sarah Buchner (Trunk Tools, Inc),
    • Ali Nikrang (AI Researcher, Ars Electronica Futurelab),
    • Stefan Rotter (Data Analytics, Supply Chain Planning, Welser Profile),
    • Christian Wallmann (AI Expert, Data Scientist, Welser Profile) und
    • Thomas Welser (CEO Welser Profile)

    die Herausforderungen und Chancen beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz. 

    Dabei ging es nicht nur um technologische Aspekte, sondern auch um ethische Fragen und die signifikanten Unterschiede zwischen den USA und Europa im Umgang mit Künstlicher Intelligenz.

    Denn während neue Technologien hierzulande auch im Hinblick auf mögliche Gefahren bewertet und umfassend reguliert werden, wird das Tempo der Transformation in Amerika vorrangig durch Profitinteressen bestimmt. Für Sarah Buchner ein wesentlicher Aspekt, warum Europa im Hinblick auf notwendige Innovationen immer mehr ins Hintertreffen gerät. 

    Und bei Welser Profile? Christian Wallmann betonte die Bedeutung von Optimierungsprozessen durch Künstliche Intelligenz, die bereits durch Chatbots und in der Predictive Maintenance große Erfolge zeigen. Und Stefan Rotter bot beeindruckende Einblicke in den Aufbau eines Data-Stacks, der die gesamte Lieferkette erfasst und wesentlich effizienter macht - von der Anlieferung bis zur Auslieferung der Produkte. 

     

    Geopolitische Herausforderungen für die Stahlindustrie

    Der Ukraine-Krieg, der Handelskrieg zwischen den USA und China sowie der Brexit hätten die Globalisierung gebremst und der europäischen Stahlindustrie neue Herausforderungen auferlegt. Mit dieser Einschätzung der globalen Entwicklung beschloss Gunther Reimoser von EY das vielseitige Vortragsprogramm. Seine Empfehlung: Die Stahlindustrie muss ihre Strategien an die neuen geopolitischen Realitäten anpassen. 

    Dafür sollten Entscheiderinnen und Entscheider folgende Schritte setzen:

    • Einbeziehung von geopolitischen Überlegungen in Geschäftsmodelle und -strategien
    • Erhöhung der Resilienz globaler Lieferketten
    • Anpassung ihrer Nachhaltigkeitsstrategien an geopolitische Realitäten

     

    Und auch in der abschließenden Diskussionsrunde war die geopolitische Dimension allgegenwärtig. Ist China eine Bedrohung für Europas Stahlindustrie? Und wie können wir uns am Weltmarkt behaupten? Fakt ist: China investiert stark in den Ausbau seiner Produktionskapazitäten für grünen Stahl, während Europa eine klare Vision vermissen lässt und bei der Umsetzung einer nachhaltigen Stahlproduktion immer weiter zurückfällt. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, die europäische Stahlindustrie fit zu machen für die Herausforderungen der Zukunft.  

    Fazit: Eine nachhaltige Zukunft durch gemeinsames Handeln

    Am Ende eines inspirierenden Tages voller interessanter Einblicke und Denkanstöße aus unterschiedlichsten Perspektiven ist klar: Der Umstieg auf eine nachhaltigere Stahlproduktion ist dringend notwendig, um Arbeitsplätze zu sichern und CO2-Emissionen zu reduzieren. Es braucht eine klare Strategie und eine ambitionierte Umsetzung, um weiter im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. 

    Nur wenn alle Stakeholder an einem Strang ziehen, hat Europas Stahlindustrie eine Zukunft. Entscheidend dafür sind technologische Innovationen, politische Rahmenbedingungen und vor allem die Bereitschaft der Konsumenten, für grüne Produkte auch höhere Preise zu zahlen.

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